Möchte ich es wissen, oder doch nicht? - "Gewolltes Nichtwissen" im Alter

zusammengefasst von Sofia-Marie Oehlke

 

„Alle Menschen streben von Natur nach Wissen.“ - mit diesem Satz beginnt der Philosoph und Naturforscher Aristoteles (384-322 v. Chr.) das erste Kapitel der „Metaphysik“. Dennoch entscheiden wir uns nicht selten dafür, leicht verfügbares Wissen weder zu suchen noch zu nutzen. Zum Beispiel: Die Neuropsychologin Nancy Wexler widmete ihre wissenschaftliche Karriere der Erforschung genetischer Grundlagen der Huntington-Krankheit, an der mehrere Mitglieder ihrer Familie verstorben sind. Als ihr im Jahr 1983 der Durchbruch in der Entwicklung eines Huntington Gen-Tests gelingt, entschieden sich Wexler und ihre Schwester, diesen nicht zu machen. Wexler lebt mittlerweile mit der Diagnose Huntington und erzählt, dass sie damals nicht mit diesem Wissen hätte leben können. Der Nobelpreisträger und deutsche Schriftsteller Günter Grass lehnte es für lange Zeit ab, seine ehemalige Akte der Staatssicherheit der DDR zu lesen. Er wollte nicht wissen, welche Freund*innen und Kolleg*innen ihn damals bespitzelt hatten. 

Was haben Grass und Wexler gemeinsam? Beide entschieden sich bewusst dafür, leicht zugängliche und aufschlussreiche Informationen nicht zu erhalten – ganz im Widerspruch zu Aristoteles‘ Grundsatz. Dieses Phänomen bezeichnet die Wissenschaft als „deliberate ignorance“ – auf Deutsch „gewolltes Nichtwissen“. Sowohl für Wexler als auch Grass überwogen mögliche negative Konsequenzen, wie das Wissen über eine zukünftige Krankheit oder die Enttäuschung gegenüber vergangenen Freundschaften. Forscher*innen nehmen an, dass dieses bewusste Ignorieren wie ein Schutzschild für unser emotionales Wohlbefinden dient.

Ralph Hertwig, Direktor des Max-Plank-Instituts für Bildungsforschung, und seinen Kollegen Jan K. Wolke und Jürgen Schupp fiel eine weitere Gemeinsamkeit auf: Wexler und Grass waren beide keine jungen Erwachsenen mehr, als sie ihre Entscheidung trafen. Tendieren wir also eher zum „gewollten Nichtwissen“, wenn wir bereits älter sind?

Um dieser Frage nachzugehen, untersuchten die Forscher 1910 Erwachsene zwischen 21 und 99 Jahren aus Deutschland. Den Teilnehmenden wurden 13 fiktive Szenarien vorgestellt, die sowohl mit einer positiven als auch negativen Erkenntnis enden könnten. Die Teilnehmenden sollten entscheiden, ob sie die Informationen wissen möchten, oder ob sie Unwissenheit bevorzugen. Ein Beispiel: „Angenommen, Sie könnten das genaue Datum Ihres Todes herausfinden. Würden Sie es wissen wollen oder lieber nicht?“. Außerdem wurden Alter, Bildungsstand, Einkommen, Risikofreudigkeit und Persönlichkeitseigenschaften erhoben. 

Die Ergebnisse der Studie bestätigen die Überlegungen von Hertwig und Kollegen: Ein höheres Alter ging mit einer Präferenz für „gewolltes Nichtwissen“ einher. Spannend ist, dass besonders Personen ab 71 Jahren Wissen zu ihrer zukünftigen gesundheitlichen Verfassung ignorieren würden. Wie lassen sich diese Ergebnisse erklären? Mit höherem Alter zeigt der Mensch eine geringere Offenheit für neue und herausfordernde Gedanken, Gefühle und Facetten des Lebens. Möglicherweise waren ältere Teilnehmende gegenüber neuen Informationen weniger offen als jüngere Erwachsene. Wenn Menschen älter werden und sich ihr Zeithorizont verengt, beginnen sie zudem, sich auf ihre gegenwärtige Zufriedenheit zu fokussieren und bevorzugt positive Informationen zu verarbeiten. Vielleicht ist für ältere Erwachsene das Risiko zu hoch, mit negativen Informationen konfrontiert zu werden - so hoch, dass sie es sogar in Kauf nehmen würden, auf eine positive Nachricht zu verzichten.

Hätte also Nancy Wexler als junge Frau die Möglichkeit gehabt, einen Huntington-Test zu machen, hätte sie sich möglicherweise dafür entschieden. Die genauen Hintergründe der Altersunterschiede beim „gewollten Nichtwissen“ sind der Forschung noch nicht klar. Stellen Sie sich doch gerne die Frage, ob Sie heute Wissen erlangen möchten, das Ihre Zukunftsaussichten nachhaltig verändert? Und würde sich Ihr früheres Ich genauso entscheiden?

 

Hertwig, R., Wolke, J. K., & Schupp, J. (2021). Age differences in deliberate ignorance. Psychology and aging, 36(4), 407–414. doi.org/10.1037/pag0000603

 Podcast: Möchte ich es wissen, oder doch nicht? - "Gewolltes Nichtwissen" im Alter


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